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Corona-Pandemie: Ein Versuch der Orientierung
In den letzten Wochen hat innerhalb unserer Gruppe ein intensiver Diskussionsprozess über Auswirkungen der Corona-Pandemie stattgefunden. Trotz der unüberschaubaren Situation und den sich fast täglich ändernden Gegebenheiten wollen wir euch an diesem Prozess teilhaben lassen.
Präambel – Die Natur, die Mathematik und ihre Gewalt
Nun sind die ersten, ersehnten Lockerungsmaßnahmen erfolgt und viele Fragen sich, sind sie ausreichend und wenn ja, wie lange müssen wir noch so weitermachen, bis wir weitere Maßnahmen lockern können? Oder müssen wir evtl. sogar Maßnahmen erst wieder verschärfen, weil die Lockerungen zu einer zu hohen zweiten Welle geführt haben? Wir haben eigene Berechnungen angestellt, die wir hier mit euch teilen möchten, um euch in etwa eine Einschätzung zu geben, worauf wir uns einstellen müssen.
Wenn wir uns den Verlauf der Pandemie nach dem SEIR-Modell in den beiden Diagrammen für eine Reproduktionszahl von 1,2 ansehen, merken wir schnell: wir haben wenig Luft nach oben. Denn ohne jegliche Maßnahmen und alltägliches Distanzgebot wie vor der Pandemie, hätten wir nach der deutschen Gesellschaft für Epidemiologie eine Reproduktionszahl von 2,4. Schon der abgebildete Verlauf würde unser Gesundheitssystem an den Rand seiner Kapazitätsgrenzen bringen, wenn 2% aller Infizierten intensivpflichtig werden, R0 = 1,3 wäre nicht mehr verkraftbar. Wir müssen also noch sehr lange mit dem Virus leben und uns klarmachen, dass die jetzigen Verhältnisse wohl Monate so andauern werden. Allerdings wissen wir nicht so genau, welche Schutzmaßnahmen und welche alltägliche Rücksicht von uns zu welcher Reproduktionszahl führen. Es liegt an uns, die Situation nicht zu verharmlosen und weiterhin solidarisch und vorsichtig zu sein; sich regelrecht auf diesen langen Kampf einzustellen, das Erreichte nicht leichtsinnig auf‘s Spiel zu setzen. Wir müssen aber auch eine fortwährende Diskussion darüber führen, welche Maßnahmen sinnvoll sind und welche unverhältnismäßig sind. Wenn unter Abstandsregeln und Mundschutz Kundgebungen stattfinden, gibt es keinen Anlass, diese Grundrechte dauerhaft vollständig einzuschränken. Genau so stellt sich die Frage, warum eigentlich gerade Möbelhäuser und Co. aufmachen dürfen, Kinderspielplätze aber geschlossen bleiben, weil die Erwachsenen offensichtlich gerne – natürlich völlig verantwortungsvoll – shoppen gehen, aber einen Horror vor ihren eigenen Kindern haben, für die das eigene Risiko sehr gering ist. Und schon fragt man sich: wiegen hier die wirtschaftlichen Interessen wieder schwerer als die sozialen? Ja, und im Kampf gegen den offensichtlich unverbesserlichen Kapitalismus wollen wir euch an den Beginn der Pandemie erinnern und euch eine Orientierung für die Zukunft geben.
Erster Rückblick aus unseren Tagebüchern
Die Bilder, die uns aus Italien erreichen, lassen einen schaudern: Särge stauen sich in eigens eingerichteten Hallen, die Krematorien laufen rund um die Uhr. Wir sehen mit Schrecken das Ergebnis einer unterschätzten Pandemie, welches auf ein völlig überfordertes Gesundheitssystem trifft.
Wir haben wahrscheinlich mehr Glück als Verstand gehabt und sind der unmittelbaren Katastrophe noch einmal davon gekommen: Ende Januar verkündete Gesundheitsminister Jens Spahn, das neuartige Coronavirus sei nicht viel schlimmer als die gewöhnliche Influenza. Entsprechend gab es keinerlei Einschränkungen bzgl. der Karnevalsfestivitäten oder anderen öffentlichen Veranstaltungen. Währenddessen hat in Italien wahrscheinlich der Ausbruch der Pandemie durch die Fußballspiele in Norditalien ihren Anfang genommen. Selbst als nach dem Karneval erste umfassende Coronafälle in Deutschland auftauchten, gab das den Offiziellen keinen Anlass, vorsichtiger bei öffentlichen Massenveranstaltungen zu werden. Als wahres Drehkreuz des Coronaerregers entpuppten sich dann die Ski-Orte in Österreich und Südtirol. Durch etliche Urlaubsrückkehrer stiegen die Fallzahlen drastisch an. Den Verantwortlichen wurde ein zu zögerhaftes Verhalten bzgl. frühzeitigen Schließungen der Ski-Orte vorgeworfen. Spielte hier etwa der Profit eine ausschlaggebende Rolle? Ja und nichts anderes als Profit trieb fortwährend die Bagatellisierung der Pandemie. Sprichwörtlich in letzter Minute wurden in Deutschland notwendige Maßnahmen zur Verlangsamung der Pandemie getroffen.
Zum jetzigen Zeitpunkt scheinen die von der Regierung getroffenen Maßnahmen erste Erfolge zu zeigen, so nimmt die Zahl der täglichen Neuinfektionen seit dem 08.04. langsam ab, befindet sich aber immer noch auf einem hohen Niveau. Dass diese Pandemie dennoch nicht vorbei ist, sollte allen klar sein. Bis ein wirksames Medikament oder ein Impfstoff gefunden sind, werden noch viele Monate vergehen. Im Folgenden wollen wir nach einem kurzen Exkurs die Widersprüche und multiplen Krisen unserer Lebens- und Produktionsweise diskutieren, die während der Corona-Pandemie wie unter einem Brennglas sichtbar werden und sich verstärken.
Exkurs: Politische Ökologie der Pandemie
Ende Dezember 2019 kam es im chinesischen Wuhan zu den ersten Fällen von Covid-19. Die Corona-Pandemie, ihre Entstehung und Verbreitung kann nur in einem gesellschaftlichen Kontext analysiert werden. Wir müssen versuchen die Wechselwirkungen zwischen kapitalistischer Produktion und dem vermeintlich Natürlichem zu verstehen - den Dualismus von Gesellschaft und Natur hinter uns lassen. Jede Lebens- und Produktionsweise hat einen Einfluss auf die Umwelt, in der sie sich reproduziert. Diese Einflüsse haben natürlich auch Konsequenzen, die nicht direkt gewollt, aber wissentlich in Kauf genommen werden, wie zum Beispiel der Klimawandel. Ähnliches gilt für die Entstehung von neuen Krankheiten. Mutationen eines Virus sind natürlich nicht direkt gesellschaftlich, sondern vielmehr evolutionär bedingt. Was allerdings gesellschaftlich bedingt ist, sind die Umstände in welchen so ein Virus eine Gefahr für Menschen wird. Der Corona Virus, welcher die Krankheit Covid-19 auslöst, wurde von Tieren auf Menschen übertragen, es handelt sich also um einen zoonotischen Erreger. Wie der Mensch mit der Natur interagiert und wie sich das Verhältnis von Mensch und Tier darstellt, verändert die Bedingungen, in denen sich gefährliche Krankheitserreger bilden und ausbreiten. Zum einen bietet die Art und Weise der Tierhaltung in den Zentren agrarindustrieller Produktion hervorragende Bedingungen, die zur Entstehung und Verbreitung von Viren beitragen können. Bei der Übertragung des neuartigen Corona-Virus handelt es sich allerdings vermutlich um Viren, die in Wildtieren anzutreffen waren. Dieser Übertragungsweg ist nicht unüblich, ähnliche Übertragungswege ließen sich beim Ebola oder Zika-Virus beobachten. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind verstärkt Übertragung von in Wildtieren isolierten Krankheitserregern auf Menschen zu beobachten. Diesem Prozess liegt eine unaufhörliche Expansion von Wertschöpfungsketten ins Hinterland zugrunde. Die Ausbreitung der Rohstoffindustrie, die Zerstörung von Lebensraum, führt unausweichlich zu Kontakten zwischen isolierten Krankheitserregern und Menschen. Die Bedingungen, in denen viele Arbeiter*innen in den sogenannten Entwicklungsländern leben müssen, beengte Wohnverhältnisse und mangelnde Hygiene, erleichtern die Übertragung. Wachsender Fleischkonsum, auch der von Wildtieren, der Handel und die Haltung von Tieren stellen weitere Faktoren dar, die Einfluss auf die Entstehung und Ausbreitung dieser Viren nehmen. Über die genaue Entstehung und Ursachen der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus wollen wir nicht spekulieren, hier muss natürlich abgewartet werden, bis genauere Forschungsergebnisse vorliegen. Die Entstehung von Pandemien muss aber in einem gesellschaftlichen Kontext begriffen werden. Eben auch, um sich Verschwörungstheorien entschlossen in den Weg zu stellen – insbesondere den kursierenden antisemitischen Verschwörungstheorien im Bezug auf die Corona-Pandemie oder den völlig irrationalen Verschwörungen, 5G würde die Krankheit auslösen.
Gesundheit als Ware
Während der Corona-Pandemie treten die Widersprüche und multiplen Krisen unsere Produktions- und Lebensweise offen zu Tage. Die eklatanten Zustände eines ökonomisierten Gesundheitssystems für Arbeiter*innen wie für Patient*innen waren auch vor der Pandemie kein Geheimwissen. Allerdings offenbart sich in dieser Pandemie das ganze Desaster der Gesundheitspolitik der vergangenen Jahrzehnte: durch einen neoliberalen Ökonomisierungs- und Privatisierungsdruck wurde das öffentliche Gesundheitssystem kaputt gespart. Es gibt zu wenig Pflegepersonal, zu wenig Intensivbetten, die in den letzten Jahren sogar noch reduziert wurden. Krankenpfleger*innen und Ärzt*innen gehen schon länger am Stock, jetzt noch die Pandemie. Wären die Empfehlungen der Bertelsmann Stiftung zur Schließung von Krankenhäusern umgesetzt worden, stünden wir jetzt vor einer nicht abzuwendenen humanitären Katastrophe in Deutschland.
Ein Blick nach Italien zeigt uns das wahre Ausmaß von Ökonomisierung und Austerität im Gesundheitssektor. Auf Druck der Europäischen Zentralbank setzte Italien nach der Eurokrise harte Einschnitte in seinem Gesundheitssystem durch. Die Zahl der Krankenhäuser sank um 15%. Es klingt wie eine Plattitüde, aber der Satz “Austerität tötet” scheint sich während der Corona-Pandemie zu bewahrheiten.
Zu den deutlichen Auswirkungen des neoliberalen Ausbaus der Gesundheitssysteme gesellen sich profitorientierte Pharmakonzerne. Das Raunen, das Ende letzen Jahres durch die Medien ging, als bekannt wurde, dass sich immer mehr Pharmakonzerne aus der Forschung nach neuen Antibiotikern zurückziehen, weil diese schlichtweg nicht rentabel genug sind, hielt leider nicht lange an. Eine ähnliche Problematik ist bei der Forschung für antivirale Mittel zu beobachten. Süchtig machende Beruhigungsmittel scheinen einfach profitabler zu sein. “Prevention does not contribute to the shareholder value”, so fasste der marxistische Humangeograph David Harvey die Entwicklung zusammen.
Was sich aber umso deutlicher zeigt ist, dass innerhalb kapitalistischer Produktions- und Lebensweise der Schutz von Menschen nicht an erster Stelle steht. Der alles regelnde Markt scheitert schon an der Verteilung von einfachsten Medizinprodukten wie Mundschutzmasken. Dass sich in Deutschland keinerlei Produktionsstandorte mehr für Atemschutzprodukte befinden, ist dem einfachen Umstand von Kostenminimierung in der Industrie verschuldet. Schutzmasken dienten vor der Pandemie ausschließlich als Arbeitsschutz. Damit zeigt sich: die Gesundheit jedes Menschen kann in einem kapitalistische organisierten Gesundheitssystem nicht gewährleistet werden.
Gemeinsam durch die Krise ?
Politiker*innen werden in dieser Zeit nicht müde zu solidarischem Handeln aufzurufen, damit wir möglichst schnell wieder in den Normalbetrieb zurückkehren können. Angela Merkel begann ihre Fernsehansprache mit den Worten: “Das Coronavirus verändert zurzeit das Leben in unserem Land dramatisch”. Dem lässt sich im ersten Moment auch nicht widersprechen, allerdings ändert es sich für die einen mehr als für die anderen. Die Anrufung des nationalen Kollektivs als vermeintliche Solidargemeinschaft soll hierarchische Strukturen unserer Gesellschaft, Klassenstrukturen, patriarchale und rassistische Unterdrückung, in den Hintergrund treten lassen. Natürlich unterscheidet ein Virus nicht, welcher Mensch infiziert wird, aber immer, und diesem Fall besonders, ist Gesundheit auch gesellschaftlich vermittelt und auch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind nicht für alle Menschen gleich zu erfüllen.
Unterschiede werden schon mit Blick auf die besonders im Laufe der Krise geforderten Berufe deutlich. Menschen in der Pflege, Einzelhandel und Logistik wird nun Respekt gezollt. In ihren Arbeitsverhältnissen, in Bezahlung und Arbeitsdichte, bildet sich dieser Respekt nicht ab. Zusätzlich sind sie durch ihre berufliche Tätigkeit einem besonderen Risiko der Ansteckung ausgesetzt. Die Arbeit aus dem Homeoffice ist für sie keine Option. Vielmehr werden Einmalzahlungen diskutiert und Applaus vom Balkon gezollt. Neben den Sonntagsreden zeigt sich wenig von Solidarität und Respekt. Die zuletzt erlassene Arbeitszeitverordnung, befristet bis zum 31.07.2020, sieht eine Anhebung der Höchstarbeitszeit bei gleichzeitiger Kürzung der Ruhezeiten in systemrelevanten Berufen vor. Als seien es nicht jetzt schon diese Berufsgruppen, auf denen eine massive Arbeitsbelastung liegt. Nach der Krise muss sich diese Form von Solidarität nicht nur in aktiver Unterstützung der Arbeitskämpfe dieser Menschen, sondern auch in materiellen Zugeständnissen widerspiegeln. Pflegearbeit, egal ob in Lohnarbeit oder verdrängt ins private, ist immer systemrelevant; sie muss auch so behandelt werden. Was schließlich wie entlohnt wird, ist eine politische Entscheidung, das gilt auch die Pflege von Angehörigen. Deutlich wird hierbei auch, dass sich vor allem Frauen, die überproportional in Pflegeberufen arbeiten, einer besonderen Gefahr der Ansteckung ausgesetzt sind. Ein erhöhtes Risiko ist allerdings nicht nur in ihren Arbeitsverhältnissen zu finden. Viele Expert*innen äußerten in den letzten Tagen die Sorge, dass mit den Einschränkungen für das öffentliche Leben auch die häusliche Gewalt zunimmt.
Neben den besonders in der Krise geforderten Berufen, haben auch die Wohnverhältnisse einen Einfluss darauf, wie gut oder eben wie schlecht eine Kontaktsperre oder ähnliche Maßnahmen umzusetzen sind. Prekäre Wohnverhältnisse oder Sammelunterkünfte kombiniert mit Kontaktsperren und die ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie lassen eine angespannte Situation erahnen. Eine besonders vulnerable Gruppe bilden dabei Kinder. Laut Armutsbericht leben in Deutschland 2.500.000 Kinder in armen Verhältnissen. Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens bedeuten für viele den Ausfall von Schulmittagessen und kein Zugang zu den Tafeln für ihre Familien. Beengte Wohnverhältnisse und familiärer Stress sorgen für zusätzliche Risiken. An gleichberechtigtes Lernen von zu Hause aus ist wohl kaum zu denken – wohl auch, weil in vielen Fällen das Geld für ausreichende technische Ausstattung fehlt. Neben Kindern bilden auch alte Menschen in der Krise eine besonders vulnerable Gruppe, nicht nur weil sie durch das Corona-Virus besonders gefährdet sind. Fast grotesk wirkt es nun letztendlich, wenn von Politiker*innen zu Solidarität mit älteren Menschen aufgerufen wird. In keiner anderen Bevölkerungsgruppe ist die Zahl der von Armut gefährdeten Menschen in den letzten zehn Jahren derart rasant gewachsen. Soziale Spaltung setzt sich in der Krise nicht nur fort, sie wird verstärkt.
Ökonomische Krise und staatlicher Eingriff
Staatliche Akteure müssen in ihrem Handel zwischen der Gesundheit der Bevölkerung und der Einschränkung der Freiheitsrechten abwägen. Wir haben bereits besprochen, dass sich Kontaktsperren in Abhängigkeit von Klasse und Geschlecht unterschiedlich auf Menschen auswirken. Wie können aber Kontaktverbote vermittelt und lange aufrecht erhalten werden, die gleichzeitig auch hart erkämpfte Freiheiten einschränken, wie bspw. das Versammlungsverbot, während in vielen Fällen nicht lebensnotwendige Produktion weiterläuft und sich Menschen somit an ihrem Arbeitsplatz einem Ansteckungsrisiko aussetzen? Zwar lassen die Maßnahmen erste Erfolge vermuten, dennoch gehen die auf die Gesundheit der Menschen gerichteten Maßnahmen auch mit Angriffen auf das Arbeitsrecht einher. Den in der anstehenden ökonomischen Krise drohenden Einschnitten, die höchstwahrscheinlich vor allem auf den Schultern der Arbeiter*innen lasten werden, müssen wir Protest und Widerstand entgegensetzen. Es ist nämlich anzunehmen, dass auf altbewährte Krisenbewältigungsstrategien zurückgegriffen wird: Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren!
Kontrollmechanismen und die Einschränkungen von Freiheitsrechten müssen immer kritisch hinterfragt werden. Einmal eingeführt werden diese selten nach einer Krise in Gänze wieder zurückgenommen oder gelten als Blaupause für künftige Reformen. Gleichzeitig wurde bereits von verschiedenen Fällen berichtet, in denen politischer Protest, unabhängig davon, ob die gewählten Formen eine Infektion unmöglich machen, eingeschränkt wird. Aber auch die Regierungen von Bund und Ländern folgen keiner einheitlichen Strategie. Ihre Maßnahmen scheinen vor allem von Nicht-Wissen geleitet zu sein. Nicht ausreichende Testkapazitäten lassen das Risiko als nicht kalkulierbar erscheinen. Der Zusammenhang zwischen den extremen Einschränkungen unserer Grundrechte und einem Risiko, das sich nur schwer kalkulieren lässt, im Gegensatz zu Risiken die von der Regierung kalkuliert werden können und unseren Alltag bestimmen, müssen im Nachgang der Krise genauer betrachtet werden[1].
Und die Wirtschaft? Produktionsstopp, Börsencrash. Finanzminister Scholz schnürt nicht gedeckelte Rettungspakete und Kreditrahmen. Bürgen soll wie immer der Steuerzahler. Während in China die Produktion schon wieder hochgefahren wird, ist in vielen Betrieben in Deutschland entweder aufgrund staatlicher Bestimmungen, fehlender Nachfrage oder einer Störung der globalen Lieferketten Kurzarbeit angesetzt. Auswirkungen für die Arbeiter*innen sind verheerend, so reicht das Kurzarbeitergeld für viele Menschen nicht, um die Miete zu zahlen und den Alltag zu bestreiten. Und eine bessere Konjunktur ist nicht in Sicht: nach neuesten Studien sind ein Drittel der globalen Lieferketten zusammengebrochen. Die extrem exportabhängige deutsche Wirtschaft wird das Netz ihrer Produktionen zu einem guten Teil vollständig neu aufbauen müssen.
Die Maßnahmen der Bundesregierung einen Zusammenbruch der Wirtschaft zu verhindern, sind vielfältig und können hinsichtlich ihrer Wirksamkeit nur schwer zum jetzigen Zeitpunkt bewertet werden. Allerdings muss die berechtigte Frage gestellt werden, wer eigentlich von diesen Maßnahmen profitiert. Denn genauer betrachtet wird auch hier deutlich: Nein, wir sitzen nicht alle im selben Boot. Großkonzerne profitieren massiv, Arbeiter*innen gehen leer aus. Schauen wir zum Beispiel auf das Kurzarbeitergeld. Für Arbeiter*innen bedeutet das Kurzarbeitergeld massive Einkommenseinbußen, Minijobber gehen sogar komplett leer aus. Unternehmen im Gegenzug sparen sich die Lohnkosten sowie Sozialversicherungsbeiträge und das bereits wenn 10% der Beschäftigten von Arbeitsausfällen betroffen sind. Gleichzeitig stehen Großkonzernen verschiedene staatliche Kredite und Bürgschaften mit vergünstigten Konditionen zur Verfügung. Erste Berichte werden publik, wo sich selbst Start-Up Unternehmer über ihre asozialen Kollegen empören. Hier versuchen gerade Millionäre ihre Investitionsrisiken zu verstaatlichen. Skrupelloser als zur Finanzkrise 2008 geht nicht mehr? Aber sicher doch! Wir wissen spätestens seit dem Aufstieg der neuen faschistischen Bewegung in Deutschland, dass das deutsche Kapital schon lange jegliche Scham verloren hat. Dazu passt auch, dass Superreiche ihre schon vorher hoffnungslos verschuldete und fragwürdige Investition namens Vapiano nun unter den Rettungsschirm bringen wollen. Wir sehen einmal wieder: die wirtschaftlichen Maßnahmen für Investoren laden regelrecht zum Missbrauch ein, alles auf die öffentliche Hand abzuwälzen, auch wenn es mit der Pandemie gar nicht im unmittelbaren Zusammenhang steht. Für die Arbeitnehmer*innen, Kleinunternehmer*innen, Künstler*innen werden nur zögerlich ein paar kleine Pakete geschnürt, die sie vorerst über Wasser halten sollen.
Doch damit nicht genug, Naomi Klein beschreibt, im US-amerikanischen Kontext, das Szenario wie folgt: “It’s going to be exploited to bail out industries that are at the heart of most extreme crises that we face, like the climate crisis”. Ein Szenario, welches ganz konkret in Deutschland beobachtet werden kann. Staatliche Unterstützung für Unternehmen der Luftfahrtindustrie, wie Lufthansa oder Condor, sowie für Branchen wie die Automobilindustrie, bei denen sich bereits 2019 ein Abwärtstrend beobachten ließ. Jedes Mittel scheint recht, um die kapitalistische Lebens- und Produktionsweise aufrechtzuerhalten. Der Eingriff des Staates in die Produktion oder die Aufgabe der “schwarzen Null”, sollte auch von Seiten der Linken nicht vorschnell bejubelt werden. Das lehren uns zumindest die Erfahrungen nach der Eurokrise. Für die letzte Krise haben Arbeiter*innen in ganz Europa einen hohen Preis bezahlt. Ob Kürzungen im Sozialsystem oder die Ausweitung von Berufen mit miserablen Arbeitsbedingungen. Profite werden privatisiert, Verluste werden vergesellschaftet: um Produktion und Akkumulation innerhalb eines tendenziell krisenhaften Systems aufrecht zu erhalten, bedarf es stabilisierender Eingriffe des Staates. Sind die Verluste erst einmal sozialisiert, wird durch aggressive Steuervermeidung versucht, die nächsten Gewinne möglichst zu maximieren. Natürlich schaffen Krisen immer auch Räume für Veränderung, mit einem Blick auf Zusammensetzung der Bundesregierung sind diese von staatlicher Seite allerdings nicht zu erwarten.
Nationale Alleingänge und europäisches Versagen
Einen weiteren Offenbarungseid in ihrer Funktionsweise leistet die Europäische Union. Nach langwierigen Diskussionen um europäische Solidarität wollen vor allem die Staaten des EU-Zentrums altbekannte Strategien auffahren, die in Teilen der europäischen Peripherie erst für die derzeitige Krise gesorgt haben. Die Entscheidung gegen Eurobonds und für den ESM bedeuten auch gleichzeitig wirtschaftspolitische Auflagen, neoliberale Reformen und Austerität. Auch der Vergleich, der auf nationaler Ebene aufgesetzten Rettungspakete und Hilfsprogramme zeigt, dass sich die Spaltung der Europäischen Union in reiches Zentrum und arme Peripherie in den nächsten Jahren weiter verstärken wird. Während Deutschland sich die Programme ca. 60%, Kreditrahmen eingeschlossen, seiner jährlichen Wirtschaftskraft kosten lässt, sind es in Italien nur 28% und in Spanien nochmals weit weniger.
Selbst die Grundsätze des europäische Binnenmarkt, der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital, können anscheinend außer Kraft gesetzt werden, gerade wenn es sich um medizintechnische Waren handelt. Eine solidarische Antwort lässt auf sich warten. Nationalismen, die die Politik der EU-Mitgliedsstaaten immer stärker prägen, tragen ihren Teil dazu bei, eine effiziente Kooperation zu erschweren.
Jens Spahn, Markus Söder und andere Verdächtige versuchen gerade auf der gesamten Welt sämtliche Schutzausrüstung aufzukaufen: Survival of the Richest. Europa scheint völlig am Ende. Reflexartig fiel gerade auch Deutschland in nationale Interessenpolitik zurück. "Bei uns ist es noch nicht so schlimm wie in Spanien oder Italien." oder die klassische, schon fast zynische Beteuerung "Wir gehen gestärkt aus der Krise hervor.“. Solidarität mit Italien und Spanien leisten erstaunlicherweise nicht wir, die sich auf die Schulter klopfend ja noch nicht besonders stark betroffen sind, sondern Russland, China und Kuba. Erst in den letzten Wochen wurden erste Patienten aus Italien in deutsche Krankenhäuser überführt. Wir schicken keinerlei nennenswerte Hilfe nach Italien. Wo sind unsere Lazarettschiffe, wo ist unsere Bundeswehr, wenn sie wirklich mal ein gescheites Einsatzziel hat?
Die Zustände, die in griechischen Lagern für Geflüchtete schon vor der Corona-Pandemie herrschten, waren mehr als skandalös und antihumanistisch. Ohne weiter darauf eingehen zu wollen, wird auch hier die fehlende europäische Solidarität und der Stellenwert von Menschenrechten in der Europäischen Union deutlich. Während generell die Einschränkung der Mobilität mit der Eindämmung der Pandemie begründet wird, werden 200.000 deutsche Touristen aus der ganzen Welt und 80.000 Erntehelfer*innen aus Osteuropa geholt. Geflüchtete aus dem Elend der Lager in ein menschenwürdiges Umfeld nach Deutschland zu bringen, wäre also problemlos möglich. Es fehlt nicht an Möglichkeiten, es fehlt der politische Wille.
Es ist noch nicht abzusehen, wie sich diese Pandemie auf unsere Zukunft auswirken wird. Wir dürfen sie auf keinen Fall zu einer neuen Urkatastrophe werden lassen, die gesellschaftspolitisch der Klimakatastrophe zuvorkommt. Sie darf nicht zum Steigbügelhalter der neuen faschistischen Bewegungen rund um den Globus werden.
Handlungsspielräume und linke Perspektiven
Die Corona-Pandemie und die damit verbundene ökonomische Krise bündelt uns die Destruktivtät unserer Lebens- und Produktionsweise wie unter einem Brennglas. Die Krise eines ökonomisierten Gesundheitssystems, die ökonomische Krise, die ökologische Krise. Entwicklungen, denen wir in unserer politischen Arbeit den Kampf angesagt haben, verstärken sich, während sich die Räume für soziale Bewegungen verkleinern. Aber um in Pessimismus oder Fatalismus zu verfallen scheint nicht der richtige Zeitpunkt. Denn schließlich sind die Schritte hin zu einer solidarischen und emanzipatorischen Gesellschaft nicht von staatlichen Akteuren zu erwarten. Wie schnell das staatliche Erziehungsziel der Selbstoptimierung und Wettbewerbsfähigkeit einem Aufruf zu Solidarität und Achtsamkeit weicht, ist erstaunlich und wenig glaubwürdig. Zielsetzung dieser Akteure war, und ist es, vor allem in Zeiten von Krisen, kapitalistische Produktionsweise aufrechtzuerhalten.
Während die Debatten um eine Exit-Strategie schon länger laufen, neoliberale und konservative Akteure argumentativ große Geschütze auffahren, den Zusammenbruch des Abendlandes prognostizieren und implizit immer wieder einen Teil ihrer Ideologie preisgeben, nämlich dass Profitmaximierung auch über Leichen geht, müssen auch wir darüber diskutieren, ob die Krise kleine Räume für progressive Veränderungen eröffnet. In vielen Städten organisieren sich Nachbarschaftshilfen und wir sehen, dass sich Protest in den digitalen Raum verschiebt. Fragen, die auch im öffentlichen Diskurs aufgeworfen werden, betreffen explizit die Widersprüche und Krisen unserer Lebens- und Produktionsweise. Welche Folgen haben neoliberale Reformen und Ökonomisierung auf unsere Daseinsvorsorge? Orientiert sich kapitalistische Ökonomie an den Bedürfnissen der Menschen und ist sie mit der globalen Zivilisation im 21. Jahrhundert überhaupt noch vereinbar? Muss die Rolle von Berufen, die zwar schlecht bezahlt werden und in denen unzumutbare Arbeitsbedingungen herrschen, aber in der Krise als systemrelevant gelten, neu bewertet werden? In diese Diskussionen müssen wir uns aktiv einbringen. Gleichzeitig müssen wir aktiv an der Seite der Menschen in den sozialen Bewegungen und Gewerkschaften stehen, die sich für progressive Veränderungen einsetzen. Uns den Regierungen und Entwicklungsdynamiken in den Weg stellen, die uns in diese Krise hineingeführt haben und weiter hineinführen werden. Gerade jetzt müssen wir zeigen, was Solidarität eigentlich bedeutet: solidarisch sein bedeutet, sich verbunden zu fühlen und gemeinsam Interessen durchzusetzen. Wohltätigkeit im Gegensatz dazu benötigt keine gemeinsamen Interessen, sie ist hierarchisch strukturiert und hat nicht zum Ziel diese Hierarchien aufzubrechen. Um den Weg in eine emanzipatorische und solidarische Gesellschaft zu ebnen, gilt es konkrete Forderungen aufzustellen, der Krise entgegenzuwirken:
- Es braucht eine Transformation des Gesundheitssystems. Krankenhauskonzerne müssen vergesellschaftet werden. Die Gesundheit, nicht die ökonomische Effizienz muss an erster Stelle stehen. Die Arbeitsbedingungen für Personal im Gesundheitssektor müssen verbessert werden.
- Der Respekt, der verschiedenen Berufsgruppen in der Krise gezollt wurde, muss sich auch in materiellen Zugeständnissen äußern.
- Die Kosten der ökonomischen Krise dürfen nicht auf Arbeiter*innen, Schüler*innen, Studierende abgewälzt werden. Es braucht sofort angemessene Abgaben auf Vermögen. Unternehmen, die in den letzten Jahren Milliarden Gewinne eingefahren haben und Aktionäre, die davon profitierten, müssen zur Kasse gebeten werden.
- Soforthilfe nicht nur für Unternehmen, sondern für alle Menschen, die Sozialleistungen beziehen, Studierenden, denen die Einkommensmöglichkeiten weggebrochen sind und alle Arbeiter*innen, die durch die Krise in ihrer Existenz bedroht sind.
- Hotels und Ferienwohnungen müssen sofort für Opfer von häuslicher Gewalt geöffnet werden!
- Staatliche Unterstützung für Unternehmen oder sogar die Beteiligung an Unternehmen können vertretbar sein, wenn im Gegenzug Schritte hin zu einer sozial-ökologischen Transformation vollzogen, prekäre Arbeitsbedingungen unterbunden und Entscheidungsprozesse demokratisiert werden! Das Wiederhochfahren der Wirtschaft nach der Pandemie darf nur mit umfassenden Klimaschutzmaßnahmen stattfinden!
- Solidarität mit den Schüler*innen die ihre Prüfung ablegen müssen. Eine normale Prüfungssituation ist in diesem Fall nicht gegeben. Wir brauchen das Durchschnittsabitur! Das Vorgehen der NRW Landesregierung ist fahrlässig und ein krasser Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz!
- Grenzen öffnen! Die Zustände in den Lagern an den europäischen Außengrenzen sind unmenschlich. Maßnahmen des Infektionsschutzes sind nicht umzusetzen, die medizinische Betreuung ist mangelhaft. Es braucht eine sofortige Evakuierung!
- Eine Öffnung der Schulen oder die Wiederaufnahme der Arbeit in den Betrieben kann es nur geben, wenn Infektionsschutz gewährleistet wird.
- Seid solidarisch!
- weitermachen!
[1] Es mag eine Frage sein, die für viele Menschen, gerade diejenigen, die zum jetzigen Zeitpunkt in der Pflege einem enormen Druck ausgesetzt sind oder andere, die einen Angehörigen verloren haben, geradezu grotesk erscheint. Diese Situation wollen wir in keinster Weise kleinreden. Das darf unseren Blick, der alltäglichen strukturellen Gewalt, nicht trüben.